Wikipedia schreibt:
“Der Süntelturm im niedersächsischen Landkreis Hameln-Pyrmont ist ein 25 m hoher Aussichtsturm auf der Hohen Egge (ca. 440 m ü. NHN[1]), der höchsten Erhebung des Süntels.”
Viel wichtiger ist, dass es dort oben am Turm eine Waldgaststätte gibt. Und zwar eine, die außer montags und dienstags tatsächlich geöffnet hat. Von geöffneten Waldgaststätten oben auf einem Berg gibt es im Weserbergland nicht ganz so viele. Und weil meine Frau und ich Gaststätten mögen, die im Wald und noch dazu oben auf einem Berg liegen, entschlossen wir uns im Mai 2022 zum Süntelturm zu wandern. Es war dann so, wie ich es in meinem letzten Beitrag beschrieben habe: Nichtsahnend betraten wir den Wald.
Und das Chaos begann.Wenn man beim Wandern im Wald gute und schlechte Erfahrungen machen kann, dann zählten die Erfahrungen am Süntelturm eher zu den schlechten.
Ich will nicht zu pathetisch werden und behaupten, es sei ein Alptraum gewesen. Nein, Alptraum wäre zu hoch gegriffen. Aber schön war es definitiv nicht.
Der Süntel ist Borkenkäferland. Und nach dem Borkenkäfer kamen die Harvester. Und die Rehe.
Es war vor vielen Jahren. Da habe ich noch gedacht: Das muss Wanderer doch abschrecken! Wer tut sich so etwas freiwillig an? Da kann man sich doch nicht erholen!
Das habe ich vor vielen Jahren mir so gedacht. Aber das war falsch gedacht. Denn Kahlschläge haben Wanderer noch nie abgeschreckt: nicht einmal in den angeblich so streng geschützten Nationalparks. Niemand fühlt sich gestört. Niemand kümmert sich darum. Nicht im Nationalpark Eifel. Nicht im Nationalpark Kellerwald-Edersee. Nicht im Nationalpark Harz. Nicht im Nationalpark Bayerischer Wald.
Kahlschläge interessieren niemanden. Dem Tourismus rund um den Süntelturm tun sie keinen Abbruch. Und wenn sie noch so groß sind. Die Wanderer kommen buchstäblich aus allen Himmelsrichtungen – und am Wochenende kommen sie nicht einzeln oder in kleinen Gruppen, sie kommen in Scharen. Denn die Gegend ist touristisch sehr gut erschlossen: Ringsum gibt es Wanderparkplätze und von denen führen viele Wege zum Turm.
Es gibt sogar einen sogenannten Qualitätswanderweg: der Weserbergland-Weg führt direkt am Süntelturm vorbei und mitten durch die Kahlschläge. “Wahre Natur – echt erleben.“1Das hellgrüne Wegezeichen für den Weserbergland-Weg befindet sich Im Foto unten an der Baumruine links.
Aber das, was die Wanderer wie magisch anzieht, das ist sowieso nicht der Wald: es ist die Gaststätte, weswegen sie kommen. Sie hat eine tüchtige Pächterin. Ältere Herrschaften werden zur Not mit dem Auto hochgefahren. Und das Essen schmeckt. Und ist preiswert. Meine Frau und ich z. B. kommen wegen dem Kuchen. Nicht wegen dem Wald. Es geht um den Kuchen: der ist selbst gebacken und gut. Und weil man vorher so eine anstrengende Wanderung – 200 Höhenmeter! – gemacht hat, darf man auch ruhig zwei Stücke essen. Sagt meine Frau.
Zurück zu den Kahlschlägen. Das Schöne für die Förster heute ist: TINA. Sie können nichts falsch machen. Und ihre Vorgänger, die für die Aufforstung mit Fichten verantwortlich waren, die sind entweder schon tot oder im Altenpflegeheim. Und die haben auch nichts falsch gemacht. Eigentlich. Denn damals haben sie nach besten Wissen und Gewissen gehandelt.
Die Fichte war das, was man heute eine “Zukunftsbaumart” nennt. Wenn man das Wort damals schon gekannt hätte, hätte man sie auch “klimastabil” genannt. Das mit dem Borkenkäfer, das konnte man damals ja nicht wissen. Das heißt: man konnte schon, wollte aber nicht.
Die Förster heute sind ohne Fehl und Tadel. Und das meine ich nicht ironisch. Der Süntel ist kein Nationalpark. Nicht einmal Naturschutzgebiet. Und im Wirtschaftswald lässt man tote Fichten nicht einfach stehen. Also Harvester.
Ich bin ein Fehlerzähler. Und ich zähle zwei Fehler. Der eine ist, dass man Douglasien pflanzt. Weil die “klimastabil” ist und eine “Zukunftsbaumart”. So wie damals die Fichte.
Der andere Fehler ist, dass die Wildbestände zu hoch sind. Viel zu hoch. Unnatürlich hoch. Zu wenig Wölfe. Zu wenig Jäger. Deshalb die Zäune, deshalb die Schutzhüllen.
Und all das ist fürchterlich teuer. Und müsste kontrolliert werden. Das aber schafft ein einzelner Förster nicht. Die Zäune sind sperrangelweit offen. Schießen wäre billiger. Macht aber keiner.
Georg Meister hat sein ganzes Leben gegen diese überhöhten Wildbestände gekämpft. Vergeblich. 2022 ist er gestorben. Über Schilder wie das folgende – es steht am Wanderparkplatz Welliehausen südlich des Süntelturms – hätte er sich geärgert. Vergeblich.
Nachtrag:
Die riesigen Kahlschläge rund um den Süntelturm interessieren wirklich niemanden. Sie werden im Internet nicht einen einzigen Artikel dazu finden. Auch nicht zum Fichtensterben am Süntel. Und auch nicht zur Geschichte der Fichten am Süntel. Die Google-Suche lieferte kein Ergebnis. Nicht eines. Kein Zeitungsartikel. Kein YouTube-Video. Kein Bericht des NDRs. Keine Pressemitteilung des Forstamts. Nichts. Und das Sägen hört nicht auf. Noch lange nicht.
Süntel im März 2023, 100 m östlich des TurmsWürden Sie zum Süntelturm wandern? Waren Sie vielleicht sogar schon einmal dort? Oder haben Sie in Ihrer Heimat auch so einen Süntelturm? Mit Kuchen und Kahlschlägen? Schreiben Sie es in den Kommentaren!
Danke für diesen schonungslosen, reich bebilderten Bericht! Ich stimme “franzjosefadrian” vollkommen zu in seiner Analyse. Ich wollte eigentlich mit meiner Gruppe morgen dort wandern. Das lasse ich nun bleiben. Schade um die Einkehr am Süntelturm, aber bei solch massakrierten Waldlandschaften und verfehlter Forstpolitik frage ich mich, was Forstwissenschaftler und -arbeiter eigentlich in ihrer Ausbildung lernen. Danke auch für den Hinweis auf Dr. Georg Meister, den ehemaligen Forstdirektor von Bad Reichenhall, der bereits Anfang der 90er Jahre im Berchtesgadener eine ganz andere, naturnahe Wiederaufforstung verfolgte und Bejagung vertrat, solange keine großen Beutegreifer die Arbeit erledigten. Georg Meister war ein Fachmann und Visionär. Seinerzeit wurde er dafür “strafversetzt”, aber er machte in seinem Forstbezirk weiter, hielt Vorträge und arbeitete mit Ehrenamtlichen und Jugendlichen. Ich habe unter seiner Anleitung mit anderen Freiwilligen Tausende Bäumchen gepflanzt, aber nur einheimische Arten, und nicht in Reih und Glied, sondern gruppenweise und in gesunder Mischung aus Laufb- und Nadelbäumen in den stark gelichteten Berghängen. Wir haben gezeigt, dass es auch anders geht. Mancherorts denken die Forstleute (Waldbesitzer und Forstbeamte) heute um und bewirtschaften den Wald auf eine wald- und umweltverträglichen Art. Die Bevölkerung ist dank Peter Wohlleben und zahlreicher Dokumentarfilme aufgeklärt und mobilisiert sich für den Wald, aber die große Masse an Holzindustriefirmen u.a. Wirtschaftsinteressen scheint weiterhin viel größer zu sein – zu Lasten des Waldes, der Artenvielfalt und unserer Lebensqualität (Luft, Wasser, Boden, Nahrung). “Erst wenn der letzte Baum gefällt, der letzte Fluss vergiftet und der letzte Fisch gefangen wurde, werdet ihr feststellen, dass man Geld nicht essen kann.” *
Im Großen und Ganzen hat die Menschheit nichts dazugelernt.
* Indianersrpuch, der lange ein Motto von Greenpeace war.
Beatrix, Wanderführerin, Freiwillige in der Aufforstung und Waldpflege
Sie haben mit Georg Meister zusammen aufgeforstet? Das ist doch spannend! Möchten Sie vielleicht darüber mehr erzählen?