Naturnahe Waldnutzung

Geschichte des Konzepts zur “Naturnahen Waldnutzung”

1986 entschloss sich der Lübecker Senat, den Stadtwald zukünftig naturnah zu bewirtschaften. Dr. Lutz Fähser wurde neuer Forstamtsleiter und beauftragt ein Konzept zu erarbeiten.

Lutz_Faehser
Dr. Lutz Fähser, Forstdirektor im Ruhestand

Fähser betonte im Gespräch mit mir, dass nicht er alleine das Konzept ausgearbeitet hat. Vielmehr wurde es entwickelt von einem ganzen Team von rund 25 Personen im Forstamt, die alle gleichberechtigt verschiedene Rollen übernahmen. Hinzu kamen fördernde Dezernenten und Stadtpolitiker. Knut Sturm, der jetzige Leiter des Forstamts, wurde als selbständiger Forstunternehmer vor allem mit der Forsteinrichtung (Inventur und Planung) und Spezialuntersuchungen beauftragt. Intensiv wurde mit allen Beteiligten (Bürgern, Umweltschutzorganisationen, Politikern, Jägern usw.) diskutiert. 1994 war das Konzept zur “Naturnahen Waldnutzung” fertig. Am 30. November 1995 beschloss die Lübecker Bürgerschaft einstimmig, in Zukunft den Stadtwald nach diesem Konzept zu bewirtschaften.

Leitgedanken der “Naturnahen Waldnutzung”

Das Konzept ist von 3 Leitgedanken geprägt. Ich stelle Ihnen die Leitgedanken vor und erläutere sie dann:

  1. “Die ‘Natürliche Waldgesellschaft’ ist langfristig die risikoärmste und produktivste Erscheinungsform des Waldes (umfassende Nachhaltigkeit).
  2. Die Leistungs- und Wirtschaftsziele für den Wald müssen ‘angemessen’ und nicht ‘maximal’ formuliert sein, damit das Ökosystem nicht überfordert und aus seinem ökologischen Optimum verdrängt wird.
  3. Das Prinzip des ‘Minimalen Einsatzes’ ist in der Urproduktion Waldwirtschaft ökologisch und wirtschaftlich dem Prinzip des ‘Maximalen Ergebnisses’ überlegen.” (Konzept, S. 4)

 zu 1. Natürliche Waldgesellschaft

Eine natürliche Waldgesellschaft besteht aus den Bäumen, die “sich ohne menschlichen Einfluß in der Region von Natur aus durchgesetzt hätten” (Knut Sturm, Strategiekonzepte zum Erhalt der biologischen Vielfalt in Lübeck und ihre praktische Umsetzung im Wald, Präsentation auf dem Workshop der Deutschen Umwelthilfe am 6. September 2011, Folie 9). Gegen das Prinzip der Naturnähe wird von deutschen Forstwirten permanent verstoßen: So bestehen 28% der Wälder Deutschlands aus Fichten. Diese entsprechen nicht der natürlichen Waldgesellschaft. Denn von Natur aus würden Fichtenwälder “nur auf 1% der Waldfläche” vorkommen (Sperber, Urwälder, S. 134). Ein anderes unrühmliches Beispiel ist der Spessart (Greenpeace, Naturerbe Spessart in Gefahr), wo die Bayrischen Staatsforsten die natürlicherweise dort wachsenden alten Buchenwälder abholzen. Die Kahlschläge werden dann mit Eichen oder Douglasien künstlich aufgeforstet. Eichenwälder entsprechen im Spessart aber nicht der natürlichen Waldgesellschaft. Und die Douglasie (Greenpeace, Douglasie – Retter in der Not?) stammt aus dem Nordwesten Amerikas.

Unnatürliche Wälder bergen hohe Risiken:  Der Orkan Kyrill hat 2007 eine Schneise der Verwüstung durch die Fichtenforste des Sauerlands gezogen. Und was der Orkan stehen ließ, wurde zum Opfer des Borkenkäfers.

Fichtenforste sind nicht nur risikoreich, sie sind auch langfristig nicht profitabel: “Jede zweite Fichte erreicht das Alter nicht, in dem sie hiebsreif wäre”, betont Lutz Fähser (Søren Harms, Willkommen im neuen Holzzeitalter, in: Brand eins, März 2008, S. 97). Auch künstliche Wiederaufforstungen sind teuer: Pflanzt man beispielsweise auf einem Hektar 20.000 junge Buchensetzlinge an, so kostet dies inklusive der Pflege in den ersten Jahren 20.000 Euro. Hinzu kommen die Kosten für den Wildschutzzaun von 10 €/m, d. h. 4.000 € pro ha (Johannes Kaiser, Der deutsche Wald. Ein Zustandsbericht, Deutschlandradio Kultur, Manuskript der Sendung vom 11. Juli 2013, S. 13). Diese Kosten fallen in Lübeck z. B. nicht an, weil man auf Naturverjüngung setzt und den Wildbestand wirkungsvoll kontrolliert.

zu 2. Angemessene Leistungs- und Wirtschaftsziele

Dass die Wirtschaftsziele dem Ökosystem angemessen sein müssen, wird mit dem Begriff Suffizienz umschrieben: “Wenn man erntet, muss man sich darauf beschränken, möglichst nur so viel zu ernten wie das natürliche System von sich aus leisten könnte.” betont Fähser in einem Interview mit Greenpeace (Sigrid Totz, Nachhaltigkeit zahlt sich wirtschaftlich aus – Teil 1, Hamburg 2012, S. 1). Auch dagegen wird zur Zeit in vielen Wäldern verstoßen: Wegen dem Energieholzboom “schlagen die Waldbesitzer jetzt zum Teil genauso viel wie nachwächst und zum Teil vorübergehend auch mehr” (a. a. O., S. 3).

zu 3. Minimaler Einsatz

Fähser wird nicht müde darauf hinzuweisen, dass es Unsinn ist, mit hohem Einsatz von Arbeit und Kapital zu versuchen, die Holzproduktion zu erhöhen. In einer Fabrik funktioniert das: hier rechnet sich der Einsatz von teuren Maschinen und Menschen. Je mehr Kapital und je mehr Arbeit eingesetzt wird, um so höher der Ausstoß an produzierten Gütern (siehe Lutz Fähser, Ökonomie und Ökosystemdienstleistungen, Vilm 2012, Folie 7 f.).
Im Wald funktioniert das nicht. Fähser spricht von der Urproduktion. Hier spielt der “Produktionsfaktor Natur die größte Rolle” (Nachhaltigkeit, S. 2). Im Gegensatz zu vielen seiner Försterkollegen, die befürchten, dass im Wald das Chaos ausbricht, wenn man nicht ständig durchforstet und pflegt und freistellt und auflichtet, ist Fähser überzeugt: Der Holzertrag stimmt, wenn man die Natur nur machen läßt: “das Holz ist gerade, ohne Äste und gesund genug, um eine bestimmte Stärke zu erreichen” (Holzzeitalter, S. 97).

Fähser hat in Betriebswirtschaft promoviert und er argumentiert streng betriebswirtschaftlich: Der Gewinn ist die Differenz zwischen Input und Output. Ziel ist die Steigerung des Gewinns. Da der Output in der Urproduktion der Forstwirtschaft aber durch die Naturgesetze begrenzt ist und nicht durch Kapital und Arbeit gesteigert werden kann, muss der Input minimiert werden. Oder anders formuliert: Die meisten deutschen Forstbetriebe “sind deswegen so wenig rentabel, weil sie so viel Kraft und Geld vergeuden, um gegen die natürlichen Systeme anzuarbeiten” (Nachhaltigkeit, S. 2).

Eine direkte Konsequenz des Prinzips des Minimalen Eingriffs war es, den Abstand zwischen den Rückegassen von 20 auf 40 m zu verdoppeln. Im Moment wird sogar diskutiert, den Abstand noch einmal auf 80 m zu vergrößern. Der alte 20 Meter Abstand bedeutet nämlich, dass man bei einer Breite von 5 m pro Gasse pro ha 25% (= 5 x 5 / 100) seiner Produktionsfläche von vornherein verliert: In einer Rückegasse wachsen nun mal keine Bäume. Es ist verrückt: Forstwirte, die Zeter und Mordio schreien, wenn 5% der Wälder nicht mehr genutzt und zu Nationalparks umgewandelt werden sollen, sind stolz auf ihre supermodernen Harvester, für deren Wege 25% des Waldbodens geopfert wird.

 

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