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Einleitung
Zuerst habe ich als Unterleuten als Hörspiel gehört. Dann die ungekürzte Ausgabe als Hörbuch. Dann den Film. Zuletzt das Buch. Unterleuten ist herausragend.
Auszug aus Kapitel 6 – Kron
»Ich will euch nicht länger auf die Folter spannen. Nur so viel von meiner Seite: Ich glaube, dass wir heute Abend von einer interessanten Sache hören, die uns allen nützen kann. Das ist Herr Pilz.« […]
»Herzlichen Dank an den Bürgermeister für die einleitenden Worte.«
Pilz schob sich die Brille ein Stück höher auf die Nase […] Ohne Zweifel gehörte er zu jenen gehirngewaschenen Sklaven der Leistungsgesellschaft, die »Lösungen« sagten, wenn sie Möbel meinten, und zu einer internationalen Supermarktkette gingen, um dort Waren aus der Region zu kaufen. Kron wusste, dass der Junge versuchen würde, seine Zuhörer »abzuholen«, um »auf Augenhöhe« mit ihnen zu reden. Ein Typ wie Pilz war noch nicht mal Verkäufer, er war selbst ein Produkt.
»Ganz schön warm heute«, sagte Pilz und fuhr sich demonstrativ mit dem Finger in den Hemdkragen, der bis oben zugeknöpft war, obwohl er keine Krawatte trug. »Bei solchen Temperaturen kann man sich vorstellen, was Klimakatastrophe bedeutet.«
»Bessere Ernten und weniger Heizkosten«, sagte Kron, und der Saal begann bis in die letzte Reihe zu lachen. […]
Pilz wartete in aller Ruhe, bis die Heiterkeit im Saal verebbte. Längst hatte er den Urheber des Einwurfs ausfindig gemacht und signalisierte durch freundliches Zwinkern, dass er plante, mit Kron in einen Dialog zu treten. Die Art, wie er ohne jedes Schwanken vor dem Publikum stand, verriet Übung. […] Unverdrossen nahm Pilz den Faden wieder auf.
»Der Klimawandel bedroht uns mit empfindlichen Gefahren. Ansteigen des Meeresspiegels, Dürreperioden, Stürme. Das wissen Sie aus den Medien. Die Vento Direct hat es sich zur Aufgabe gesetzt, Lösungen anzubieten.«
Da waren sie also, die Lösungen. Damit kannte Kron sich aus. Immerhin steckten jeden Morgen zwei überregionale Tageszeitungen in seinem Briefkasten. Früher hatte er die Blätter als Reportagen aus dem Herzen des Feindes gelesen, heute las er sie als Satiremagazine. Er wusste, wie man mit Schweinegrippe Pharmaprodukte verkaufte, mit Terrorismus Wirtschaftskriege legitimierte und mit Klimakonferenzen den heimischen Markt gegen Billigimporte schützte. Er beherrschte die dazu passende Rhetorik. Auf einer Pressekonferenz hätte er jeden beliebigen Schwachsinn erklären können, zum Beispiel, warum trotz Bankenkrise eine Regulierung der globalisierten Märkte leider nicht möglich sei. Er wusste, wann man »alternativlos« und »Sachzwang« sagen musste, nämlich in jedem zweiten Satz. Er kannte die Argumentationsfiguren, mit denen Verantwortung von den Kommunen auf die Länder, von der Landesebene auf die Bundesregierung und von der Bundesregierung nach Brüssel abgeschoben wurde. Soziale Ungerechtigkeiten ließen sich bestens legitimieren, indem man darauf verwies, dass Wirtschaft und Wohlstand andernfalls nach China abwandern würden.
Außer dem Lesen von überregionalen Witzblättern sah er jeden Abend fern, am liebsten öffentlich-rechtlich. Erst die Nachrichten und danach die einschlägigen Selbstentlarvungsshows mit Plasberg, Will, Beckmann, Maischberger, Illner oder Lanz. Die industrialisierte Zurschaustellung von Inkompetenz erheiterte ihn. Im Spätkapitalismus gab es keine Gesellschaft mehr, sondern nur noch ein Gesellschaftsspiel, dessen Ziel darin bestand, die kläglichen Überreste von Politik möglichst gekonnt in Unterhaltungswert umzusetzen. Da die Politiker nach eigenem Verständnis ohnehin nichts mehr zu entscheiden hatten, verwandelten sie sich in Politikdarsteller, deren Hauptaufgabe in Emotionstheater, Überzeugungsinszenierung und Entscheidungssimulation bestand. In gewisser Weise war das Kunst. Es gab Empörungsarien, Schuldzuweisungssinfonien und Forderungsballaden.
Bequem saß Kron im Sessel, wie es das System von ihm erwartete, und schaute Kanzlerkandidaten, Oppositionsführern und Regierungssprechern beim Rüberkommen zu. Alle schauten zu. Der Konsumbürger schaute den Journalisten zu, wie sie den Politikern dabei zuschauten, wie diese der Wirtschaft beim Wirtschaften und den Katastrophen beim Eintreten zuschauten. Alles ließ sich in den Zyklus des Zuschauens einspeisen, Eurokrisen, Erdbeben, explodierende Bohrinseln. Bei der Suche nach nicht vorhandenen, weil in Wahrheit nicht wirklich gewollten »Lösungen« ging es ausschließlich um das Erzeugen von Unterhaltungswert.
Kron durchschaute das Spiel in schmerzhafter Klarheit. Als Kind hatte er Krieg und Nachkriegszeit, als Erwachsener die DDR und als alter Mann den entfesselten Raubtierkapitalismus erlebt. Er hatte genug gesehen, um die Welt als einen Ort zu begreifen, an dem Veränderung vor allem darin bestand, die Ungeheuerlichkeit in immer neue bunte Gewänder zu kleiden. Krons bequemer Sessel stand auf der Meta-Ebene. Er schaute zu und verteilte A- und B-Noten. Pilz schlug sich gut. Er war dabei, sich eine hohe Punktzahl auf der Verlogenheitsskala zu sichern.1Juli Zeh, Unterleuten, Kap. 6 Kron
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