Einleitung
Ein schönes Beispiel für das Prinzip des minimalen Eingriffs ist die Art und Weise der Durchforstung, wie sie im Lübecker Stadtwald praktiziert wird. Es wird viel seltener durchforstet und viel weniger Bäume werden gefällt.
Die Seite gliedere ich in Absätze:
- Das Vorbild der Totalreservate
- Wissenschaftliche Arbeiten
- Traditionelle Durchforstung: Qualifizieren und Dimensionieren
- Unterschiede zwischen der QD-Strategie und dem Lübecker Konzept
- Vorteile der Durchforstung nach dem Lübecker Konzept
- Kritik der traditionellen Forstwirtschaft am Lübecker Konzept
Das Vorbild der Totalreservate
Im Lübecker Stadtwald haben Lutz Fähser und Knut Sturm Anzahl und Umfang der Durchforstungen drastisch reduziert. Den entscheidenden Anstoß für ihr Umdenken gaben Beobachtungen in Totalreservaten, die seit Jahrzehnten nicht forstwirtschaftlich genutzt wurden und in denen folglich auch nicht durchforstet worden war.
Altbuchen im Totalreservat Schattiner ZuschlagTrotzdem konnte Knut Sturm beispielsweise im seit über 60 Jahren unberührten Totalreservat “Schattiner Zuschlag” in der Nähe von Lübeck feststellen, dass die alten Buchen dicke, gerade und astfreie Stämme hatten. Frei nach dem Motto: “Gar lustig hat’s die Forstpartie, es wächst der Wald auch ohne sie!” Ein 6-minütiges Video der Wissenschaftssendung “Quarks & Co.” berichtet am 13.8.2011 über Knut Sturm unter dem Titel “Ein Förster und eine Idee”:
Wissenschaftliche Arbeiten
Die Idee von Knut Sturm führten zu umfangreichen mehrjährigen Untersuchungen, an denen viele angesehene Wissenschaftler verschiedener Universitäten beteiligt waren:
- 2008 wurde der Abschlussbericht eines zweijährigen Forschungsprojekts veröffentlicht, das von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt gefördert worden war: Lütt, Silke (Projektleiterin), Abschlussbericht zum Projekt Nutzung ökologischer Potenziale von Buchenwäldern für eine multifunktionale Bewirtschaftung, Flintbeck 2008
- 2012 veröffentlichten Knut Sturm, Andreas Fichtner, Corinna Rickert, Werner Härdtle und Joachim Schrautzer im Journal of Applied Ecology die Ergebnisse ihrer Forschungen zum Einfluss der Konkurrenz zwischen Buchen auf ihr Wachstum: Competition response of European beech Fagus sylvatica L. varies with tree size and abiotic stress: minimizing anthropogenic disturbances in forests.
Die Arbeiten gelten unter Förstern als “Nestbeschmutzung” und “Gotteslästerung” (Knut Sturm), wird darin doch die herkömmliche Praxis der Durchforstung grundsätzlich in Frage gestellt.
Traditionelle Durchforstung: Qualifizieren und Dimensionieren
Um zu verstehen, was einen Hermann Spellmann, Leiter der Nordwestdeutschen Forstlichen Versuchsanstalt, an den Arbeiten so auf die Palme bringt, muss man die herkömmliche Art der Durchforstung verstehen. Knut Sturm erläutert diese am Beispiel eines 50jährigen Buchenbestands im Forst Ritzerau. Der BHD der meisten Bäume schwankt zwischen 21 und 49 cm. Die natürliche Altersklasse ist also Baumholz:
Buchenbaumholz im Forst RitzerauIn diesem Bestand würde herkömmliche Förster nun 60 Z-Bäume auszeichnen. Um diese Z-Bäume herum würden 180 Bedränger gefällt. Das Endergebnis sähe vermutlich ähnlich aus wie bei einem von Wald-und-Holz-NRW durchforsteten Buchenbestand in Herbremen. Das ist in der Nähe von Arnsberg im Sauerland:
Alle Beschreibungen der Fotos ((Die Beschreibungen werden sichtbar, wenn Sie mit der Maus auf ein Foto zeigen.)) stammen von den Seiten 25-29 des Aufsatzes “Die Buche im Münsterland” von S. Hesse aus dem Jahr 1997.
Vater dieser Art der Durchforstung ist Georg Josef Wilhelm. Wilhelm ist Leitender Forstdirektor bei den Landesforsten Rheinland-Pfalz. In der Zentralstelle der Forstverwaltung leitet er die Abteilung “Betriebsplanung und Produktion“. Nachlesen kann man seine “Waldbaustrategie” in einem 2013 erschienen Buch “Naturnahe Waldwirtschaft mit der QD-Strategie“. QD steht für “Qualifizieren” und “Dimensionieren”. So lautet auch der Titel einer Hochglanzbroschüre der rheinland-pfälzischen Forstverwaltung: Qualifizieren – Dimensionieren – Waldbaustrategie. Wilhelm ist unter Waldbauern ausgesprochen populär: Dies wird z. B. deutlich bei einer Buchvorstellung im Rathaussaal der Stadt Blieskastel oder auch durch die euphorischen Buchrezensionen bei Amazon. Besonders bizarr ist, dass die QD-Strategie als “umweltfreundlich”, “schonend”, “rücksichtsvoll” und “naturnah” gilt. Dazu Knut Sturm lakonisch: “Bei Förstern ist immer alles naturnah.” Er nennt die QD-Strategie eine “Apfelbaumstrategie”: Die Z-Bäume werden so freigestellt wie Apfelbäume auf einer Gartenwiese.
Unterschiede zwischen der QD-Strategie und dem Lübecker Konzept
An 2 Beispielen erklärte mir Knut Sturm die Unterschiede zwischen der QD-Strategie und dem Lübecker Konzept.
Beispiel 1
Bei der QD-Strategie hätte man schon früher den Bestand durchforstet. Der “Startschuss zur Dimensionierung” beginnt laut bei Wilhelm bereits mit “35-40 Jahren”. ((Qualifizieren, S. 12)) In Lübeck wartet man bis zum 50. Lebensjahr. Sturm zeigt mir 4 dicht nebeneinander stehende Buchen alle mit einem BHD von 25-30 cm.
Bei der QD-Strategie würde man nun einen der vier Bäume als Z-Baum auszeichnen und die übrigen drei als Bedränger fällen. Sturm läßt alle vier stehen. Er kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht beurteilen, welcher Baum in der Zukunft der wertvollste Baum mit einem dicken, langen, geraden und astreinen Schaft werden wird. Gut möglich, dass alle vier Bäume später zu Prachtexemplaren heranwachsen. Vielleicht entwickelt sich aber tatsächlich auch einer der Bäume zu einem Bedränger. Dann kann er zu einem späteren Zeitpunkt immer noch gefällt werden.
Die Folge der QD-Durchforstung sind Wälder mit einem niedrigen Holzvorrat und wenig Holzzuwachs. Man fällt zu viele Bäume, von denen sich viele zu wertvollen Bäumen entwickeln könnten. Man schießt sich gleich zweimal ins Knie: Einmal kosten die häufigen Durchforstungen viel Geld, zum anderen verringert man seine zukünftigen Einnahmen.
Beispiel 2:
Knut Sturm zeigte mir 2 Buchen mit einem BHD von 30 cm, die beide einen Zwiesel haben. Beim linken Baum ist der Zwiesel weiter oben am Stamm: es ist ein Hochzwiesel. Der rechte Baum ist ein Tiefzwiesel.
Der Hochzwiesel wird später einmal wertvoller sein: sein Schaft ist länger. Beide Bäume berühren sich mit ihrer Krone. Sie haben die gleiche Vitalität: Beide sind gesund und haben die gleiche soziale Stellung. Sie gehören zur herrschenden Baumklasse, d. h. sie zählen zum “Hauptbestand … mit verhältnismäßig gut entwickelten Kronen”. ((Röhrig, Waldbau, S. 222)) In diesem Fall würde Sturm den Tiefzwiesel fällen, weil er tatsächlich den Hochzwiesel bedrängt. ((vgl. Knut Sturm, Waldbauliche Schlussfolgerungen, im: Abschlussbericht, S. 338)) Alle anderen Bäume allerdings bleiben stehen. Bäume mit geringerer Vitalität werden nicht gefällt, auch wenn sie die Krone des Z-Baums berühren.
In diesem Bestand wird Sturm dreimal im Abstand von 7-8 Jahren durchforsten. Die Bäume haben dann eine BHD von 40 cm . Und ab diesem Durchmesser reagieren Buchen nicht mehr mit verstärkten Wachstum, auch wenn man vermeintliche Bedränger entfernt. Knut Sturm:
„Das ist ja die Theorie bis jetzt immer gewesen, dass, wenn
ich einen pflegenden Eingriff mache, wo ich darauf achte, dass der beste Baum möglichst schneller wächst, indem ich ihm seine sogenannten Bedränger wegnehme, also Bäume, von denen ich glaube, die haben einen schädlichen Einfluss auf das Baumwachstum von dem guten Baum, dass der dann auch weiß, dass er schneller wachsen muss. Und offensichtlich wissen die Bäume das aber nicht. Die haben schlicht und ergreifend die Bücher nicht gelesen, weil die Buchen wachsen halt bei uns ab einem Durchmesser von 40 cm einfach nur noch individuell. Dem können Sie so viel Futter gegen, wie Sie wollen,
der will dann einfach nicht schneller wachsen und auch nicht langsamer.” ((Kaiser, Johannes: Der deutsche Wald. Ein Zustandsbericht, Deutschlandradio Kultur, Manuskript der Sendung vom 11. Juli 2013, S. 15))
Die entsprechende Grafik, die die Forschungsergebnisse zusammenfasst, sieht so aus:
aus: Knut Sturm, Moderne Forstwirtschaft, Folie 29
Zur Erläuterung: Die Bestandsdichte ist die Summe aller Baumquerschnittsflächen in 1,3 m Höhe. Je größer dieser Wert, desto dichter stehen die Buchen nebeneinander. Die Grafik verdeutlicht, dass das Durchmesserwachstum von Buchen mit 50 und 65 cm BHD nur noch minimal von der Dichte des Bestands abhängt. Selbst eine Verdopplung der Bestandsdichte von 25 auf 50 m2/ha, verringert das Durchmesserwachstum nur um Bruchteile von mm. Das Entfernen von Bedrängern ist wirkungslos.
Vorteile der Durchforstung nach dem Lübecker Konzept
Das Lübecker Durchforstungskonzept hat viele Vorteile: ((siehe Sturm, Schlussfolgerungen, S. 340 f.))
- Der Holzvorrat wird deutlich höher als in den üblichen Wirtschaftswäldern. Sturm strebt Vorräte von 600 Vfm/ha an. Das ist nahe am Vorrat von unbewirtschafteten Totalreservaten .
- Diese Durchforstung schont den Boden. Das Durchforstungsholz kann mit Pferden zu den Rückegassen transportiert werden, die in einem Abstand von 80 m angelegt werden können.
- Es gibt deutlich mehr Biotopholz im Wald.
- Fäll- und Rückeschäden nehmen ab.
Kritik der traditionellen Forstwirtschaft am Lübecker Konzept
Hermann Spellmann, Leiter der Nordwestdeutschen Forstlichen Versuchsanstalt, taucht nicht zufällig im Video von nano als Kritiker auf. Er hat 2013 für das Umweltministerium eine Generalabrechnung mit dem Lübecker Konzept verfasst, die den bezeichnenden Titel trägt: Ist unsere Buchenwirtschaft noch zeitgemäß? Darin wirft er den Lübeckern “methodische Mängel” und “daraus resultierende Fehlschlüsse” vor. ((Spellmann, Buchenwirtschaft, S. 6))
Andreas Fichtner wiederum hat auf die Kritik geantwortet: Zur Stellungnahme der NW-FVA. In seiner Antwort wird auch deutlich, warum die Arbeit der Lübecker für Laien so schwer verständlich ist: Es wimmelt ja von mathematischen Formeln und komplizierten Grafiken. Der Gruppe war bewusst, dass sie Tabubrüche begehen und Heilige Kühe der Forstwirtschaft schlachten. Um ernst genommen zu werden und ihren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu untermauern, publizierten sie im Journal of Applied Ecology, das international einen hervorragenden Ruf genießt. Die Artikel werden von der Zeitschrift auf Herz und Nieren überprüft und erst dann veröffentlicht. Knut Sturm erzählte mir, dass der Zeitschrift die Ergebnisse zunächst nicht genügten und die Revisoren weitere Berechnungen verlangten. Nicht umsonst hat das Journal einen sehr hohen Impact-Faktor von 5,02. Und so vermerkt Fichtner süffisant, dass Spellmann “ökologische und naturschutzfachliche Arbeiten ausblendet und überwiegend Arbeiten in nationalen,
nicht-ISI gelisteten Fachzeitschriften bzw. ‘graue Literatur’ ohne Revisionsprozesse
bzw. Vorträge” zitiert. ((Fichtner, Stellungnahme, S. 1)) Kürzer ausgedrückt: Spellmanns Argumente halten einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand.