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Das Narrativ „Knorrige Eichen“
Hinweis: Alle Hervorhebungen in den Zitaten sind von mir.
Die Form der Bäume beschreiben Frede und Morkel so:
„Vielerorts […] formen die für die Region so typischen uralten und knorrigen Baumgestalten außergewöhnlich bizarre Waldbilder.“1ebd.
Uralt, knorrig, außergewöhnlich, bizarr. Nicht nur Frede und Morkel beschreiben die Bäume so. Auch Panek hat sie so beschrieben. Alle beschreiben die Bäume so. Niemand schert aus. Als hätten sie alle voneinander abgeschrieben. Immer sind die Bäume an der Kahlen Hardt „uralt“, „knorrig“, „knochig“, „skurril“, „bizarr“ oder „außergewöhnlich“.
Wunderschön!
Praktisch jede Webseite über den „Knorreichenstieg“ benutzt dieselben Adjektive. Geopark-Grenzwelten zum Beispiel ist begeistert vom den „grandiosen Naturwäldern“ am Stieg. Grimmheimat Nordhessen fühlt sich dort „Dem Urwald so nah …“. Waldecker-Land verspricht „unvergessliche Naturerlebnisse – letzte echte Urwaldreste mit atemberaubenden Ausblicken“. Damit nicht genug: „Bizarre Baumgestalten entführen Sie in die Welt der Kobolde und Gnome“. Kobolde und Gnome – das steht da wirklich! Der Naturpark Kellerwald-Edersee „entdeckt“ an den Steilhängen „knorrige, skurrile Wuchsformen“. Der Nationalpark bietet eine „Wanderung Märchenwälder“ und verspricht: „Bizarre Baumgestalten, herrliche Ausblicke.“ Es fehlt eigentlich nur noch „mystisch“, „magisch“ und „romantisch“.
Und auch Frede und Morkel klingen ein bisschen wie Tourismusmanager:
„Das attraktive Landschaftsensemble aus Wald und Wasser mit seinen abwechslungsreichen Hängen, Schluchten und malerischen Ausblicken ermöglicht außergewöhnliche Naturerlebnisse auf reizvollen Wanderrouten […].“2a.a.O., S. 12
Attraktiv, abwechslungsreich, malerisch, außergewöhnlich, reizvoll.
Caspar-David-Friedrich-Kitsch
Das ist alles andere als selbstverständlich. Man könnte die Bäume auch ganz anders beschreiben. Man könnte sie „verkrüppelt“ nennen oder „beschädigt“, „krank“, „kränkelnd“, „kaputt“, „abgestorben“, „absterbend“, „tot“, „totgeweiht“, „bemitleidenswert“, „deprimierend“ oder „hässlich“. Böse Zungen würden vielleicht sogar von „Caspar.David-Friedrich-Kitsch“ sprechen. „Fehlt nur noch eine Klosterruine … und an der Schönen Aussicht macht man dann auf Wanderer über dem Nebelmeer.“ So aber spricht niemand. So darf „man“ nicht sprechen. So spricht „man“ nicht. Und das prägt. Nicht eine einzige der über 1.000 „Tipps“ zum „Wander-Highlight“ Knorreichenstieg auf komoot ist negativ: Alle finden es „schön“.
Man könnte die Art und Weise, wie „man“ über den Knorreichenstieg spricht, ein Narrativ nennen. Und dieses Narrativ beherrscht den Diskurs über den Stieg. Wenn jemand den Stieg nicht schön, sondern potthässlich findet, muss er sich erklären. „Du findest das nicht schön? Warum das denn?“ Man muss sich rechtfertigen. Man gerät in Erklärungsnot und Begründungszwang. „Bist Du etwa gegen Naturschutz?“, „Denk doch an die vielen Mikrohabitate!“, „Die vielen Urwaldreliktarten!“ „Naturschutzfachlich wertvoll!“, „Unbedingt schützenswert!“, „So selten!“ Die Litanei nimmt kein Ende.
Um nicht missverstanden zu werden: Jeder darf den Knorreichenstieg schön und die Eichen knorrig finden. Aber dass alle so empfinden und niemand den Stieg hässlich und die Eichen verkrüppelt findet, ist problematisch. Gerade weil die Geschmäcker doch angeblich so verschieden sind. Ich jedenfalls schließe mich dem Narrativ nicht an. Nicht mehr. Ich finde die verkrüppelten Eichen hässlich wie die Nacht.
Erschrecken
Ich finde auch viele tote Eichen auf einem Haufen hässlich. Ich meine nicht die eine tote Eiche in einem Bestand. Nein. Nichts gegen Habitatbäume und stehendes Totholz! Ich rede davon, wenn der ganze Bestand abstirbt.
So ein Bild erschreckt einen auf der Abkürzung zum Kamm des Steilhangs (siehe roter Pfeil auf der Karte oben). Der schmale Pfad führt über eine Lichtung, auf der alle Bäume abgestorben sind oder mit dem Tod ringen.
Tote und halbtote Buchen, tote und halbtote Eichen. Tote Äste wie knöcherne Finger in den Himmel gestreckt.
Autobahnparkplatz
Ein unangenehmes Gefühl beschlich mich auch an der Schönen Aussicht. Ich fand die Aussicht inmitten dieser toten oder missgestalteten Bäume alles andere als schön.
Es war deprimierend und beängstigend. Ein plattgetrampelter Boden, auf dem buchstäblich kein Gras mehr wächst.
Hätte auch noch Müll herumgelegen, ich hätte es ekelhaft gefunden.
Es hatte etwas von Autobahnparkplatz. Fehlten nur noch die Bierdosen und benutzten Papiertaschentücher.
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