Wie man einen Urwald ruiniert

In meinem letzten Beitrag habe ich darüber geschrieben, dass es im 19. Jahrhundert im Böhmerwald noch große Urwälder gab, und dass im Jahr 1858 Fürst Schwarzenberg 1.850 ha Urwald zu einem Schutzgebiet erklärt hat. Der Botaniker Heinrich Göppert bereiste 1864 die Urwälder des Böhmerwaldes und hielt seine Eindrücke in Zeichnungen fest.

Zeichnung 17: “Eine unfern von der vorigen entnommene Ansicht [Kubany-Urwalde am Capellenbach] mit ebenso grossen Stämmen, mit nicht geringerer Zahl von Lagerstämmen, gleichfalls mit jungen Fichten verschiedener Grösse bedeckt” ((Heinrich Robert Göppert, Skizzen zur Kenntnis der Urwälder Schlesiens und Böhmens, Dresden 1868, S.56. Eine höhere Auflösung der Zeichnung finden Sie hier: Zeichnung 17 – 2.400 x 1.600 Pixel.))

Ich möchte in diesem Beitrag erzählen, wie dieses Schutzgebiet nur wenige Jahre später ruiniert wurde. Georg Sperber schreibt darüber in seinem Buch Urwälder Deutschlands. Ich möchte aber auch Fehler korrigieren, die sich in den Text von Sperber eingeschlichen haben und einige Lücken füllen.

Fangen wir mit einem Fehler an: Es waren nicht 1.850 ha, die Johann Adolf II. Fürst zu Schwarzenberg zum Schutzgebiet erklärte, sondern 143,7 ha.

Diese Zahl steht auf der offiziellen Webseite über das Nationale Naturschutzgebiet (tschechisch: Národní přírodní rezervace) des Kubany-Urwalds (tschechisch: Boubínský ((Boubin ist der tschechische Name für den 1.362 m hohen Berg Kubany.)) prales)

“Die ursprüngliche Fläche des Urwalds, die vom Landeigentümer geschützt wurde, betrug 143,7 ha.” ((englisch: “The original area of the primeval forest which was protected by the landowner in 1858 was 143.7 ha.”))

Die Webseite wird verwaltet von der Agentur für Natur- und Landschaftsschutz der Tschechischen Republik (tschechisch: Agentuře Ochrany Přírody A Krajiny Česká Republika, AOPK ČR) und dem tschechischen Umweltministerium (tschechisch: Ministerstvo životního prostředí, MŽP). Auch andere Quellen im Internet verwenden diese Zahl: So spricht Dr. Hans Aschenbrenner in seinem Aufsatz “Der Urwald von Kubany” von 144 ha. ((Dr. Hans Aschenbrenner, Der Urwald von Kubany in: Mythos Heimat – Heft 11, Grafenau 2014, S. 10)) Und auch der Verein Pro Nationalpark Freyung-Grafenau schreibt in seinem Bericht über die Herbstwanderung 2011 zum Kubany-Urwald, dass  “ca. 150 ha” zum Schutzgebiet erklärt wurden.

Wie aber kommt Sperber überhaupt auf die offensichtlich falsche Größenangabe von “rund 1.850 ha”? Im Buch zitiert er die Anordnung des Fürsten, wie sie durch Göppert überliefert ist. Leider gibt Sperber diese seine Quelle nicht an und er zitiert sie nur verkürzt. Göppert nämlich schreibt auf Seite 18 in seinem Buch Skizzen zur Kenntnis der Urwälder Schlesiens und Böhmens folgendes:

Auf dem Kubany haben “sich noch etwa 3200 Joch oder 7200 Morgen Pr. in ihrem primitiven Zustande erhalten”. Sie repräsentieren “[a]ller Angaben und Meinungen nach die Urwaldverhältnisse des Böhmerwaldes am grossartigsten [..]. Um sie nun aber auch der Nachwelt zu erhalten, hat der durchlauchtige Besitzer dieses unschätzbaren Kleinodes entschieden: ‘dass von besagtem Urwalde 3200 Joch für immer erhalten und gepflegt werden sollen, um auch den Nachkommen noch einen Begriff von der Vollkommenheit zu verschaffen […]’, eine Anordnung, für welche Mit- und Nachwelt sich nicht genug dankbar bezeigen können […].”

Das Flächenmaß “Morgen Pr.” steht für den Magdeburger Morgen, der in Preußen benutzt wurde. Das Maß umfasst eine Fläche von 2.553,22 m2. Multipliziert man dieses Flächenmaß mit 7.200, erhält man 1.838 ha. Das sind aufgerundet 1.850 ha – also die Zahl, die Sperber nennt. Warum die tatsächlich unter Schutz gestellte Fläche dann sehr viel kleiner war als die Fläche im Text der Anordnung, konnte mit Hilfe des Internets nicht aufgeklärt werden.

Der Ruin des Urwald-Schutzgebietes

Über den Ruin des Urwalds schreibt Sperber:

“1870 wurden die Urwälder am Kubany von einem Sturm schwer getroffen, insbesondere der vom Bergfichtenwald geprägte Nordteil. Die neugebaute Forststraße ermöglichte den Abtransport der geworfenen Stämme. Nur eine unzerstörte Teilfläche von 46,6 ha verblieb künftig als ‘Urwald’.” ((Urwälder Deutschlands, S. 15))

Diesmal stimmt die Flächenangabe. Auch die oben genannte offizielle Webseite spricht von nur 46,67 ha, die von der Säge verschont blieben. Trotzdem klafft bei Sperber eine Lücke zwischen Sturm und Abtransport des Sturmholzes: Es wird nicht richtig deutlich, warum der Fürst die geworfenen Stämme im Schutzgebiet nicht einfach liegen ließ.

Zeichnung 18: “a. Sehr alter Lagerstamm, bemoost, halb verrottet, von 52 F. [~ 16 m] Länge und etwa 10 F. [~ 3 m] Umfang [Ø ~1 m], mit 3 darauf wachsenden dicken Stämmen, b. ein darauf, d. h. auf a. liegender Stamm von 8 F. [~ 2,5 m] Umfang [Ø ~0,8 m] und 62 F. [~19 m] Länge; bei c. die Stelle, wo der Wurzelstock sich befand, daher die Erhöhung; e. der dritte, auf a. und b. gefallene, noch ziemlich gut erhaltene Stamm (aus dem Urwalde des Frommberges bei Landeck).” ((Göppert, S. 56. Zahlen in eckigen Klammern von F.-J. A. Landeck (polnisch: Lądek-Zdrój) liegt in Schlesien, dem heutigen Polen. “Der gleichen giebt es viele Tausende in Böhmens Urwäldern.” (Göppert, S. 57) Eine höhere Auflösung der Zeichnung finden Sie hier: Zeichnung 18 – 1.800 x 1.600 Pixel.))

Denn mit der Ausweisung des Schutzgebietes hatte Fürst Schwarzenberg darauf verzichtet, dort das Totholz zu nutzen. Göppert schätzt die Menge des “brauchbaren Lagerholzes”,  ((Göppert, S. 18)) das noch nicht “verfault” war, auf 50 Klafter pro Joch, also rund 70 Festmeter pro ha Urwald. In den umgebenden Wirtschaftswäldern hatte man bereits damit begonnen, dieses Totholz zu nutzen und “die Wälder aufräumen, wie die Forstmänner zu sagen pflegen.” ((Göppert, S. 47)) Mit der Nutzung der “zahllosen übereinander gehäuften Stämme” ((ebd.)) konnte sehr viel Holz gewonnen werden z. B. für die 1834 neugebaute Glashütte in Lenora im Süden des Kubany.

“Welche enormen Quantitäten von Holz hier allerdings noch auf diese Weise unverwendet lagern, deutet eine Mittheilung des Herrn Oberförster Schönauer in Stubenbach an, zufolge deren er in den letzten 15 Jahren in seinem Reviere nicht weniger als 150,000 Klaftern aus den zu Boden liegenden Hölzern gewonnen habe.” ((ebd.))

150.000 Klafter – “das sind  360.000 Festmeter!” ((Urwälder Deutschlands, S. 15)) Das macht 24.000 Festmeter pro Jahr. Das Holz wurde über neu gebaute Straßen oder durch die Trift befördert. Genutzt wurde der Kaplitzer Bach, der im Süden des Kubany zu einer Klause, dem Kubany-See (tschechich: Boubínské jezírk), aufgestaut worden war, und vom Kubany bis nach Lenora fließt und dort in die Moldau mündet. Die Infrastruktur zur Ausbeutung und zum Ruin des Urwalds war also bereits vorhanden. Es fehlte nur noch ein Anlass.

Zeichnung 19: “Aeltere auf einem Lagerstamm von 40 F. [~ 12,5 m] Länge befindliche, mit ihren Wurzeln unter einander verwachsene Stämme , deren stärkster von 5 F. [~ 1,5 m] Umfang [Ø ~ 0,5 m] (auch aus dem Urwald des Frommberges).” ((Göppert, S. 56))

Aschenbrenner ist in seinem oben bereits erwähnten Aufsatz genauer als Sperber. Er füllt die Lücke zwischen Sturm und Abtransport des Sturmholzes und erklärt:

“Am 26./27. Oktober 1870 ist ein furchtbarer Orkan über den Böhmerwald hinweg gerast und hat auch die Winterberger Forsten stark geschädigt. [..] In den Jahren 1873 bis 1875 folgte eine verheerende Borkenkäferkalamität, die auch die Reservation betraf. Nach diesen Rückschlägen kam man zu der Überzeugung, daß man nur die am wenigsten betroffene Abteilung am Kaplitzer Bach mit einer Fläche von 47,08 Hektar als Reservation belassen könne.” ((Der Urwald am Kubany, S. 10 f., Hervorhebung von F.-J. A.))

Der Borkenkäfer lieferte den gewünschten Anlass zur Ausbeutung des Urwalds. Er lieferte die Begründung dafür, auch im Schutzgebiet die Windwürfe aufzuarbeiten und Sanitärhiebe durchzuführen. Vermutlich argumentierten die Förster des Fürsten Schwarzenberg damals genauso wie die Förster heute: Sie berufen sich auf den Wald- bzw. Forstschutz: Auch heute lernen die angehenden Förster, dass vom Wind geworfene Fichten sofort abtransportiert werden müssen, damit der Borkenkäfer nicht in ihnen brüten kann. Und befallene, noch stehende Fichten müssen ebenfalls sofort gefällt werden.

Im Urwald von Kubany kam es also so, wie Göppert es bereits in seinem Buch nur zwei Jahre vor dem Orkan befürchtet hatte. Ihm war die Ausweisung des Schutzgebietes “umso erwünschter” gewesen,

“[…] als die grössere Zugänglichkeit dieser Waldmassen durch die von Schattawa aus über den Kubany angelegte Kunststrasse, die Kukastrasse, wohl die Besorgniss erregen musste, dass sie dazu bestimmt sei, in noch höherem Grade die Verwerthung des Holzes einzuleiten und somit die Erhabenheit des Waldes zu beeinträchtigen.” ((S. 19))

Schattawa (tschechisch: Zátoň) ist ein Stadtteil von Lenora, wo die neue Glashütte stand, “eine der größten Glashütten Böhmens”. ((siehe Lenora – Geschichte))

Zeichnung 1: “Ansicht einer Urwaldpartie vom Moldauthal aus bei Schattawa; a. Buchen, b. und c. Weiss- und Rothtannen oder Fichten, d. die obere oder Fichtenregion, e. thurmartig hervorragende Weisstannen.” ((Göppert, S. 54))

Am deutlichsten wird vermutlich eine Person den Ruin der Urwälder vorhergesehen und auch am meisten gefürchtet haben: Josef John, der Forstmeister des Fürsten Schwarzenberg aus Winterberg, ((dem heutigen Vimperk)) auf dessen Initiative der Fürst das Schutzgebiet eingerichtet hatte. Er starb nur ein Jahr nach dem Orkan. Vielleicht hat Aschenbrenner Unrecht:

“Diese Katastrophe hat nicht nur die Waldungen verwüstet, sondern auch die Lebenskräfte Johns gebrochen.” ((Der Urwald am Kubany, S. 10))

Vielleicht war es nicht der Orkan, der die Lebenskräfte Johns gebrochen hat, sondern der Abtransport des Sturmholzes und der Ruin des Urwalds. John muss ein sehr liebenswürdiger Mensch gewesen sein. Göppert schreibt über ihn:

“Allen meinen Wünschen wurde in Folge derselben auf das Bereitwilligste entsprochen und alle erbetenen Mittheilungen ertheilt, in welcher Hinsicht ich mich Herrn Forstmeister John in Winterberg noch ganz besonders zu Dank verpflichtet fühle.” ((Göppert, S. 11))

Danksagung

Dr. Hans Aschenbrenner danke ich für ein angenehmes Telefonat und seine wertvollen Hinweise auf weiterführende Literatur; u. a. das Buch Urwald Boubín (Kubany): Das Nationalreservat und seine Geschichte ((Oldenburg, Edition Sagitta 2006)) von Michal Šíp.