Auszug aus Kapitel 13 – Fließ
Er war nicht aufs Land gezogen, um zu erleben, wie der urbane Wahnsinn die Provinz erreichte. Er verzichtete nicht auf Theater, Kino, Kneipe, Bäcker, Zeitungskiosk und Arzt, um durchs Schlafzimmerfenster auf einen Maschinenpark zu schauen, dessen Rotoren die ländliche Idylle zu einer beliebigen strukturschwachen Region verquirlten. Gerhard war ein Exilant, geflohen vor dem Gespinst aus Belästigungen, zu dem das moderne Leben geworden war. Größenwahnsinnige Arbeitgeber, unfreundliche Verkäuferinnen, Dauerbaustellen auf Hauptverkehrsstraßen, stundenlange Parkplatzsuche, Kinderwagen in überfüllten U-Bahnen. Überall Werbung, die den Verstand beleidigte. Nachbarn, die am Samstagmorgen Regale an die Wände schraubten. Kinder, die in der Wohnung oben Fangen spielten. Leute, die nicht wussten, dass es zum Musikhören Kopfhörer gab. Zehn verschiedene Paketdienste, die alle zwanzig Minuten klingelten, um eine Sendung für die Nachbarn abzugeben. Zugeschissene Bürgersteige. Überwachungskameras und flimmernde Monitore an jeder Ecke. Unternehmensberater am Arbeitsplatz. Berufsverkehr, Rollschuh-Demos, neurotische Hunde, überquellende Mülltonnen und Menschen, die den lieben langen Tag auf ihre Smartphones starrten, um jene ungesunde Mischung aus Panik und Langeweile nicht zu spüren, die für den aktuellen Zeitgeist typisch war.
Die Welt wurde in Städten erfunden, verwaltet, regiert und dekoriert. Also sollten die Irren mit ihrem Irrsinn auch in den Städten bleiben. Kein Schwein interessierte sich für Unterleuten, wenn es darum ging, Breitbandkabel zu verlegen, verarmte Rentner zu unterstützen oder eine Arztpraxis zu eröffnen. Dann sollten sie gefälligst auch ihre Windräder im Berliner Tiergarten errichten.
Unterleuten bedeutete Freiheit, Symbol der Freiheit war ein unverstellter Horizont. Unverstellte Horizonte gehörten zu Gerhards Job.
Mit Grauen dachte er daran, dass moderne Windkraftwerke die Höhe des Kölner Doms erreichten. Als wären Schaller und seine Müllverbrennungsanlage nicht Strafe genug. Der alte Kron mit seiner Krücke mochte nicht ganz bei Trost sein, aber seine Worte vor dem Märkischen Landmann hatten ins Schwarze getroffen.
Wenn auf der Anhöhe im Westen ein Windpark stünde, wäre Gerhards Haus, für dessen Sanierung er sich bis an sein Lebensende verschuldet hatte, keinen Pfifferling mehr wert. Das würde bedeuten, dass sie nicht wegziehen konnten, selbst wenn sie es wollten. Und Jule wäre bestimmt niemals in der Lage, sich mit dem Anblick der drehenden Rotoren zu arrangieren.
Mal abgesehen von ihrer persönlichen Betroffenheit, machte schon die Existenz der Kampfläufer das Vorhaben zur Farce. Man investierte doch nicht Millionen in ein EU-finanziertes Naturschutzgebiet, um es dann durch das Aufstellen von Windrädern in sein Gegenteil zu verkehren. Das Vogelschutzreservat Unterleuten lag auf dem Gebiet von drei benachbarten Gemeinden und war mit knapp 200 Hektar eines der größten in Europa. Gemeinsam mit vier Kollegen bewachte Gerhard auf diesem Territorium eine Population von 16 Brutpaaren. Gemäß Anlage 1 zur Bundesartenschutzverordnung gehörten die Kampfläufer zu den streng geschützten Vögeln. Sie waren 30 Zentimeter hoch, graufleckige Vögel von Größe und Statur einer kleinen Mülltüte, allerdings mit erstaunlicher Flugfähigkeit. Im Balzkleid präsentierten die Männchen einen weißen oder orangefarbenen Kragen. Traditionell besaßen die Vögel sogenannte Arenen, in denen sie ihre Werbungsläufe aufführten, während die Weibchen am Rand standen und sich ein Männchen für die Paarung aussuchten.1Juli Zeh, Unterleuten, Kap. 13 Fließ
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