Das Scheitern der Waldentwicklung im NLP Harz

Antwort auf die 1. Frage

Meine 1. Frage lautete:

“Welche Strukturpflegemaßnahmen wurden hier durchgeführt?”1zum Folgenden siehe auch Anlage 1 – Strukturpflegemaßnahmen

Frau Bauling, stellvertretende Leiterin der Nationalparkverwaltung (i. F. abgek. NLPV), antwortet:

“Bis 2017/18 konnten die Maßnahmen der Waldentwicklung entsprechend unserer Waldentwicklungsplanung durchgeführt werden.
2014 und 2015 wurden hier Durchforstungen durchgeführt, um die Fichtenreinbestände auf die Initialpflanzungen mit Buche vorzubereiten. Im Gegensatz zu forstlichen Voranbauten geht es bei den Waldentwicklungsmaßnahmen im NLP um das Einbringen von Initialen, die die Samenbäume für zukünftige Waldgenerationen werden sollen.
Die Natur erhält praktisch ‘Werkzeug’ für die Waldentwicklung.”

Frau Bauling benutzt viele Fachbegriffe, die für den Laien vielleicht unverständlich sind. Ich werfe ihr das nicht vor; in meinem Brief bediene ich mich selbst der Fachsprache. An dieser Stelle aber möchte ich die von Frau Bauling benutzten Fachbegriffe zunächst erklären, dann mit Hilfe aktueller Tätigkeitsberichte des NLPs erläutern und dann auch kommentieren:

Waldentwicklung

Man könnte denken, dass Waldentwicklung kein Fachbegriff ist: Wälder entwickeln sich und das nennt man dann eben Waldentwicklung. Aber so versteht es Frau Bauling nicht; die NLPV versteht Waldentwicklung immer als einen Prozess, bei dem sie selbst die treibende Kraft ist, nicht der Wald. Der Wald entwickelt sich nicht von alleine, er wird entwickelt. Und es ist die NLPV, die den Wald entwickelt. Ganz bewusst greift die NLPV in die Entwicklung des Waldes ein und steuert diese. Nur in der Naturdynamikzone2zur Erklärung der unterschiedlichen Zonen im NLP siehe z. B. Pflanzungen und Käferbekämpfung waren im Nationalpark Harz niemals ein Tabu oder auch Nationalpark Harz – Tätigkeitsbericht 2020, S. 36 hält sich die NLPV heraus. Nur dort darf der Wald machen, was er will und sich selbst entwickeln. Nur hier gilt das Motto “Natur Natur sein lassen!”. In der Naturentwicklungszone aber wird die Natur gerade nicht in Ruhe gelassen. Hier ergreift die NLPV Maßnahmen, um die Natur zu entwickeln:

“In der Naturentwicklungszone werden Maßnahmen der Waldentwicklung hin zu mehr Naturnähe der Wälder durchgeführt. Dies betrifft vor allem strukturarme und gleichförmige Fichtenforste in den unteren und mittleren Lagen bis ca. 750 m ü. NHN.”3Nationalpark Harz – Tätigkeitsbericht 2020, S. 37

Maßnahmen der Waldentwicklung

Der Plural bei Maßnahmen ist missverständlich, denn die NLPV kennt nur eine einzige Maßnahme: Laubbaumpflanzungen. Und es wird auch nur ein einziger Laubbaum gepflanzt: die Buche.4zum Folgenden siehe auch Anlage 2 a – Pflanzungen Im Tätigkeitsbericht 2021 lautet gleich der allererste Satz des Kapitels “3.3.1 Waldentwicklungsmaßnahmen”:

“Die Laubbaumpflanzungen in den Fichtenflächen orientieren sich an den natürlichen Vegetationsstufen und dienen als Initiale für die Rückkehr der Buche in ihr natürliches Verbreitungsgebiet in den folgenden Waldgenerationen.”5Nationalpark Harz – Tätigkeitsbericht 2021, S. 38

Von irgendeiner anderen Maßnahme ist im gesamten Kapitel nicht die Rede; es geht nur um “Laubbaumpflanzungen”, “gepflanzte Laubbäume”, “Initialpflanzungen” und “Umwandlungsflächen”. Und wenn die NLPV sich selbst lobt für einem “neuen Rekord” bei Laubbaumpflanzungen, dann ist immer nur die Buche gemeint. Es geht um “junge Buchenpflanzen”, “eine ‘Rekordernte’ an Bucheckern” und “eine Million Buchen”.

Initialpflanzungen

“Initialen” sind im Verständnis der NLPV junge Buchen aus der Baumschule, die in die Fichtenforste gepflanzt werden, wo es weit und breit keine Mutterbäume gibt, die Bucheckern produzieren könnten. Eine Naturverjüngung ist also nicht möglich, deshalb muss auf künstliche Verjüngung zurückgegriffen werden. Vielleicht spricht die NLPV lieber von Initialpflanzungen als von künstlicher Verjüngung, weil das Adjektiv “künstlich” in einem NLP einen schalen Beigeschmack hat. “Initial” – das klingt besser, es klingt nach Neuanfang, nach Neubeginn, nach einem frischen Start. Leider ist Kunstverjüngung aber nicht nur unnatürlich, sondern darüber hinaus auch sehr umständlich, sehr arbeitsaufwändig und sehr teuer. Trotzdem muss die NLPV auf dieses Mittel benutzen, denn sie handelt ihrem Selbstverständnis nach nicht freiwillig, sie muss zu diesem Mittel greifen. Der Grund:

“Zwei Drittel der Nationalparkfläche sind potenzielle Laubwaldstandorte. Hauptbaumart im Nationalpark Harz wäre von Natur aus die Buche. Die potenzielle Fläche der Buchenwälder beträgt ca. 16.800 ha. Deutschland gilt als Kernland der Buchenwälder weltweit. Daher hat auch der Nationalpark Harz eine besondere Verantwortung für die Buche und ihre Rückkehr. In weiten Teilen des Nationalparks fehlen die notwendigen Samenbäume für ihre Wiederansiedlung. Eine natürliche Wiederausbreitung der Buche in höhere Lagen bis ca. 750 m ü. NHN würde ohne menschliche Unterstützung sehr lange Zeiträume benötigen. Vor diesem Hintergrund sind in der Naturentwicklungszone Waldentwicklungsmaßnahmen legitim und notwendig.”6Nationalpark Harz – Tätigkeitsbericht 2021, S. 37, Hervorhebungen von mir

Sonst mahnen Förster immer wieder: “Sie müssen Geduld haben beim Wald!” oder “Sie müssen einen langen Atem beim Wald haben!” Sonst heißt es immer: “Der Wald braucht Zeit!” oder “Kommen Sie mal in 10 Jahren wieder, dann sieht es hier ganz anders aus!” oder “Wir arbeiten hier im Wald für unsere Enkel und Urenkel!”. Im NLP Harz gilt das nicht: hier hat man keine Zeit. Es würde “sehr lange” und damit eben zu lange dauern. Der NLP kann nicht warten. Er hat eine “besondere Verantwortung”. Die Maßnahmen sind “legitim und notwendig”.

Aber wenn man genau liest, dann dauert es nicht nur “ohne menschliche Unterstützung sehr lange Zeiträume”. Es dauert auch mit Unterstützung sehr sehr lange, denn die heute gepflanzten Bäume sind nur Mittel zum Zweck. Sie sollen einmal Samenbäume werden. Und erst aus ihren Samen soll dann in Zukunft ein natürlicher Buchenwald entstehen – durch Naturverjüngung, für die man jetzt keine Zeit hat. Bis aber die heute gepflanzten Buchen fruchten, werden “40 – 80 Jahre”710 Fakten zur Buche vergehen, d. h. ein heute 50jähriger Mitarbeiter der NLPV wird das nicht mehr erleben, ganz zu schweigen von den bereits pensionierten ehemaligen Mitarbeitern.8siehe auch Zeitbedarf für den Umbau

Noch hoffnungsloser wird es, wenn man berücksichtigt, dass alle Initialen nie Bucheckern produzieren werden; verbissene Buchen werden keine Samenbäume.

Durchforstung

Im Kosmos Wald- und Forstlexikon lesen wir:

“Durchforstung, die: Pflegemaßnahmen (→ Bestandspflege9siehe Lexikon für Fachbegriffe – Bestand) im → Stangen-10siehe Lexikon für Fachbegriffe – Stangenholz und → Baumholz11siehe Lexikon für Fachbegriffe – Baumholz im Anschluss an die → Läuterung. Ziel der Durchforstung ist es, durch Begünstigung der Besten den Wertzuwachs entsprechend zu lenken.”

Diese Form der Durchforstung meint Frau Bauling gar nicht. Denn Pflegemaßnahmen gibt es im NLP nicht. Sie will gar nicht die “Besten” begünstigen und an “Wertzuwachs” ist sie auch nicht interessiert.

“Die Waldentwicklungsmaßnahmen dienen ausschließlich der Waldentwicklung hin zu mehr Naturnähe und nicht wirtschaftlichen Zielen.”12Nationalpark Harz – Tätigkeitsbericht 2021, S. 37, Hervorhebungen von mir

Unter Durchforstung versteht Frau Bauling den Aushieb von Fichten, um Platz und auch Licht für die Buchensetzlinge zu schaffen. So viele Fichten können 2014 und 2015 aber gar nicht eingeschlagen worden sein, denn ein Luftbild13Digitales Orthofoto, siehe auch DOP Viewer vom 22. April 2019 zeigt nur wenige Lichtungen auf der Fläche. Der Fichtenforst bleibt “strukturarm und gleichförmig”14Nationalpark Harz – Tätigkeitsbericht 2020, S. 37:

1: Unterführung unter der B4
2: Weisergatter
3: Kaiserweg

Voranbau

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte – das folgende zeigt den Voranbau von Buchen:

Die jungen Buchen stehen nicht im Harz sondern in Hümmel, dem Wald von Peter Wohlleben. Er hat Buchensetzlinge in Gruppen unter den Schirm von Fichten gepflanzt.15Voranbau von Buchen durch Peter Wohlleben Ziel ist es, den Fichtenforst langfristig in einen Buchenwald umzuwandeln.16siehe auch die umfangreiche Materialsammlung der Bayerischen Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft LWF: Voranbau – Mit Buche und Tanne vom Schatten ins Licht – LWF-aktuell 80

Unklar ist, warum Frau Bauling einen Gegensatz zwischen “forstlichen Voranbauten” und den “Waldentwicklungsmaßnahmen im NLP” konstruiert. Denn nicht nur diese haben das Ziel “Samenbäume für zukünftige Waldgenerationen” zu erzeugen. Auch die vorangebauten Buchen in einem Wirtschaftswald sollen ja später einmal Bucheckern produzieren und für zukünftige Waldgenerationen sorgen. Kein Förster, der noch ganz bei Trost ist, verzichtet auf natürliche Verjüngung. Vielleicht ist der Sinn des von Frau Bauling konstruierten Gegensatzes aber auch der, dass sie daran denkt, dass in einem Wirtschaftswald die Samenbäume irgendwann auch mal geerntet werden. Und das – da hat sie Recht – ist in einem NLP natürlich nicht der Fall.

Kommentar

Gefragt hatte ich nach den Strukturpflegemaßnahmen und Frau Bauling antwortet: Es wurde durchforstet und es wurden Buchen gepflanzt. Nun – das stand auch auf der Infotafel, die 2020 noch am Weisergatter stand.

Gerne hätte ich erfahren, was genau bei den Durchforstungen 2014 und 2015 passiert ist: Wie viele Fichten wurden gefällt? Nach welchen Kriterien wurden sie ausgewählt? Wer hat die Fichten gefällt? Mit der Motorsäge oder mit dem Harvester? Wurden neue Rückegassen angelegt? In welchem Abstand? Forwarder oder Rückepferde? Schlammschlacht oder gefrorener Boden? Wohin wurde das Holz verkauft? China oder lokale Sägewerke? Oder Heizkraftwerk? Wie viel Geld wurde verdient? Oder wurde sogar Verlust gemacht? Antworten darauf wären viel interessanter gewesen als die peinlich genaue Bezeichnung von Unterflächen einer bestimmten Waldabteilung: “In den Unterflächen 482d2 und 482d3 …”.

Außerdem würden ausführliche Angaben zu den damaligen Durchforstungen den Verdacht entkräften, der sich Laien vielleicht aufdrängen könnte. Laien könnten ungefähr so denken:

“Durchforstung! Soso! Man markiert also zuerst ein paar Fichten. Das kann ich auch! Dann fällt man ein paar Fichten. Dazu beauftragt man Waldarbeiter. Das kann ich auch! Man pflanzt Buchen. Dazu beauftragt man auch Waldarbeiter.17Oder engagiert Freiwillige. Siehe Freiwillige pflanzen Buchen im NLP Harz oder das Schwerpunktthema im Tätigkeitsberichts 2021, S. 8 ff. Das kann ich auch! Wofür braucht man eigentlich die vielen gut bezahlten Mitarbeiter der NLPV?”

Wie gesagt: Laien könnten so denken. Und man könnte dem entgegenwirken, wenn man mehr über die konkrete Arbeit der NLPV erfahren würde.

Nachtrag

Im Februar 2021 erhielt ich nicht nur die Email mit der Antwort von Frau Bauling. Ich erhielt am selben Tag noch eine zweite Email:

“Vielen Dank für den Hinweis wegen der Infotafel. Sie ist natürlich vom Geschehenen überholt und wir werden sie, sobald es die Witterung zulässt, abbauen.”

Ich glaube, Frau Bauling ist ein guter Mensch. Denn sie hat Humor.

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Ein Gedanke zu „Das Scheitern der Waldentwicklung im NLP Harz

  1. Wohin wurde das Holz aus dem Nationalpark Harz D verkauft?

    Angeregt durch Ihre Schilderungen haben wir im Juni 2020 die Region Harz besucht. Die Feldlerchen, Kornblumen, Hasen, Baumpieper, Kulturlandschaften, die Geschichte bis hin zu kapitalen Hirschen, riesige Flächen mit abgestorbenen Fichten und der Horror-Forstwirtschaft haben uns beeindruckt. Enttäuschend präsentierten sich die Informationen, Beschilderungen und Prospekte über die Landschaft. National- und Regionalparks, die mit viel identischer Eigenwerbung immer mehr Länder überziehen, finde ich zunehmend doof. Sie ziehen Leute an. Sie vermitteln auf eine linear-dogmatische Art einen Fächer von Behauptungen und Aktivitäten, die mit Natur und naturkundlichen Realitäten wenig zu tun haben. Als Besucher fühlt man sich gegängelt. Man merkt die Absicht und wird angespannt-verstimmt. In den touristisch erschlossenen Gebieten kommt nirgends so etwas wie ein Gefühl der inneren Ruhe auf. Man braucht viel Erfahrung und noch mehr eigenen Willen, damit man Beobachtungen einordnen, komplexe Zusammenhänge in Raum und Zeit erkennen und würdigen kann.

    Das Thema Harz ruhte in der Corona-Pause. Der Ukrainekrieg, die neuerliche Ankurbelung des Wachstums, die Energiewende und die mitteleuropäischen Missionen der globalen Klimarettung befeuerten im eigentlichen Sinne des Ausdrucks die Forstwirtschaft auf ihrem Holzweg.

    Wirtschaftlich erfolgreiche Forstreviere im Aargauer Jura (Schweiz, südlich des Rheins) verkaufen 75 Prozent ihres nachwachsenden Holzes als Holzschnitzel an Heizkraftwerke. Weil die Landesregierung (im Einklang mit der EU) unter dem Druck der Forstlobby das CO2 aus der Holzverbrennung als klimaneutral bezeichnen, boomen Bau und Betrieb von Holzheizkraftwerken. Der physikalische Unfug ermöglicht die buchhalterische Einhaltung von Vorgaben zur Reduktion von Treibhausgasen. Der globale CO2 Gehalt und die Temperatur steigen unbeeindruckt weiter an. Hitzeinseln wachsen unvermindert weiter. Waldareale werden so malträtiert, dass ihre Kahlschlagflächen den klimawandel sogar unterstützen. Modernste Lastwagen holen Hackschnitzel direkt im Forst ab. Sie karren sie in grossen Mengen durch ganz Europa. Lastwagenfahrer berichteten in Zeihen, dass sie für die Industriellen Werke Basel IWB (www.iwb.ch) Holzschnitzel aus Deutschland holten. Entfernung 650 km (Fahrstrecke ein Weg). 650 km entsprechen genau der Strassenlänge Basel CH – Harz. Die Kommunikationsabteilung der IWB bestritt weder die Distanz noch die Lieferung der Holzschnitzel aus Deutschland. Man beruft sich in Basel auf „aussergewöhnliche Umstände“. Ich nehme an, es handelte sich um Holz, das nach den Waldbränden geschlagen und preiswert verkauft wurde. Über die Lieferanten hüllte sich die IWB in Schweigen. Weder im Internet noch im Geschäftsbericht 2022 der IWB habe ich dazu Informationen gefunden.

    Die Fragerei bei Unternehmen und Verwaltungen ist generell mühsam und ernüchternd. Die Angestellten versenden wohlformulierte Texte, neu erfundene Begriffe, Begriffskombinationen und Begriffsinhalte. Einfachste Realitäten, wirtschaftliche Zwänge und politische Vorgaben werden verschleiert. Nationalparkmythen und Ansehen von Unternehmen müssen geschützt werden. Um Gerüchten und Kritikern vorzubeugen, nutzen die Verantwortlichen Erzählungen (Narrative) und ständige Wiederholungen. Die Forstwirtschaft kann mit schematischen Buchenanpflanzungen im Harz einen neuen Wald begründen. Holzverbrennung und CO2 Buchhaltungen tragen zu einem klimaneutralen Wirtschaftswachstum bei (IWB von Natur aus klimafreundlich). Nationalparks dienen der Natur und der Waldentwicklung.

    Heiner Keller, CH Zeihen, 08.08.2023

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