Wie Journalisten den Hambacher Forst erschaffen haben

Wie Journalist  Weidermann aus einer Baumbesetzerin eine Heilige machte

Am 22. September 2018 erscheint im SPIEGEL der Artikel “Sie denken, sie haben gewonnen”. Der Artikel schildert nicht wie so viele andere die letzten Neuigkeiten vom Kampf Aktivisten gegen Polizisten und wo wann welches Baumhaus wie geräumt worden ist. Der Artikel berichtet über die Rede einer Baumbesetzerin, die gerade von Polizisten festgenommen worden ist. Wie es zu so einem Artikel kommt, erläutert Michael Meyen.

Im September 2018 war der Hambacher Forst in allen Medien. Das zu schreiben, was alle andern auch schreiben, fördert nicht die Auflage. Um eine hohe Auflage zu erreichen, brauchte der SPIEGEL etwas Besonderes. Meyen schreibt:

“Exklusivität ist die Währung, um die im Journalismus gespielt wird. Diese Währung braucht keinen Scoop [= sensationelle Meldung] und keine ‘Fakten’, keine investigative Reporterin und nicht einmal ein Interview.” ((Meyen, S. 62))

Exklusivität braucht gute Ideen. Sie braucht einen Story-Macher:

“[Ein Story-Macher] sucht Ideen. Am besten etwas, was noch nicht in der Zeitung stand. Früher ging es um den Sport und heute eher um Persönliches. Offenbar neigt diese Gesellschaft zum Voyeurismus.” ((Meyen, S. 67))

Story-Macher Volker Weidermann sucht auch nach neuen Ideen, nach etwas, das so noch nicht in der Zeitung stand. Und er findet das Video “Winters Statement”, das im Internet gerade viral geht. ((siehe Wikipedia – Internetphänomen)) In dem 3,5 minütigen Video geht es um sehr Persönliches und es befriedigt den Voyeurismus. Denn es zeigt eine junge Baumbesetzerin, die verzweifelt ist und die ganze Zeit weint. Offenbar ist sie soeben von zwei Polizisten festgenommen worden, die jetzt links und rechts von ihr stehen. Die Frau ist nicht eloquent, sympathisch oder schön. Sie ist kein Medienprofi. Sie ist kein Naturtalent. Aber dieses Bild, wie sie da zwischen den beiden Polizisten steht, dieses Bild, wie sie anfängt zu weinen; dieses Bild, wo ihre Stimme versagt; diese Bilder haben etwas, sie sind nicht gewöhnlich, sie sind neu, sie sind anders. Diese Bilder hat man so noch nie gesehen. Weidermann weiß um die Mächtigkeit dieses Bildes:

“Den Kampf der Bilder kann nur eine Seite gewinnen. Die Seite, die recht hat. Die Naiven. Die etwas wissen, was der Schaufelradbagger nicht weiß. Die Baumsitzer.”

Die naive Frau, die mehr weiß als der Schaufelradbagger, redet ununterbrochen. Nicht mit den Polizisten, sondern für die Kamera und für die Zuschauer im Internet. Sie will, dass die ganze Welt erfährt, was sie redet. Vielleicht haben sie und der Kameramann sogar gehofft, dass das Video viral gehen würde. Michael Meyen meint dazu:

“Wir liefern freiwillig und kostengünstig genau das, wonach Medienleute ohnehin händeringend suchen: Material, mit dem sich Reichweite maximieren lässt.” ((Meyen, S. 26))

Weidermann hat händeringend nach einer exklusiven Story gesucht und er ist fündig geworden. Exklusivität entsteht durch das, was Weidermann mit dem Video macht. Und er macht daraus eine große Geschichte, die große und alte Geschichte von Gut gegen Böse:

“Es ist […] ein archaischer Kampf. Auf der einen Seite diese riesigen grauen, eisernen, dinosaurierartigen Monster, deren Schaufelräder sich mit ohrenbetäubendem Lärm in die Erde graben. Auf der anderen Seite das Grün der Bäume, die Stille, Häuser aus Holz in den Wipfeln […].”

Das ist zwar kein guter Journalismus, sondern Kitsch. Aber der steigert die Auflage. Von Anfang bis Ende arbeitet Weidermann mit plakativen Gegensätzen. Er kennt nur Schwarz und Weiß. 

“Es ist der Kampf Pragmatismus gegen Naivität, Wirtschaftslogik gegen Schönheit, Industrie gegen Natur, die Verwandlung von Wald in eine öde Mondlandschaft.”

Weidermann bleibt nicht der unbeteiligte und objektive Zuschauer, sondern er bezieht eindeutig Stellung. Er sagt, wer Recht hat. Seine ganzen Sympathie gehört der Naivität, der Schönheit, der Natur und dem Wald. Pragmatismus, Wirtschaftslogik, Industrie lehnt er ab: Diese führen zu öden Mondlandschaften.

Die Idylle in den Wipfeln wird auch nicht dadurch getrübt, dass deren Bewohner sich sehr sonderbar verhalten:

“Häuser aus Holz in den Wipfeln, Menschen, die dort oben wohnen und ihre Kacke in Eimern sammeln, um sie den Angreifern, die von unten kommen, auf den Kopf zu kippen. Kampf um den Wald. […]”

Beim “Kampf um den Wald” ist auch “Kacke” erlaubt. ((Das Mindener Tageblatt berichtet am 8.11.2018 darüber, dass 51 Polizisten während des Einsatzes zwischen dem 13.9. und Anfang Oktober von den Besetzern mit Fäkalien beworfen wurden.)) Sie ist “das Richtige”:

“Nun klettern die Baumsitzer durch die Wipfel. Ihre Waffen: Fäkalien, Lieder und eine unerschütterliche Selbstgewissheit, das Richtige zu tun.”

Der Kampf Gut gegen Böse braucht Helden. Und nichts ist spannender, interessanter und aufregender als eine mutige und tapfere Frau, die unschuldig und rein ist, aber von finsteren und bösen Mächten besiegt worden ist. Weidermann über das Video:

“Es ist die Aufnahme einer Frau, die sie gerade vom Baum gepflückt haben. Sie ist ganz in Schwarz gekleidet, auch das Haar mit schwarzem Tuch bedeckt. Sie ist so heiser, dass man sie manchmal kaum versteht. Neben ihr steht ein gepanzerter Mann. […] Der gepanzerte Mann neben ihr scheint unter dem Helm ganz unbeteiligt. Vielleicht lacht er auch. Vielleicht hört er unter dem Helm gar nichts. Sein ganzer Körper ist mit irgendwelchen Geräten und Waffen ummäntelt. Sie schaut mal nach oben in den Himmel, mal zeigt sie die offenen Handflächen.”

So geht schlechter Journalismus: Weidermann malt ein Heiligenbild. Er macht aus der Frau eine Heilige. Die Frau steht da unschuldig und wehrlos so wie Jesus vor Pontius Pilatus und wird vom Soldaten verspottet. Und der Journalist versinkt in Betroffenheit.

“Sie weint. Sie hat verloren. Sie ist glücklich, weil sie etwas anderes gewonnen hat. Der Panzermann dreht sich um die eigene Achse. Verschämt, angewidert, gelangweilt. Wir wissen es nicht.”

So schreibt normalerweise kein Journalist; so predigt ein Priester. Aber das ist egal, denn diese rührende Geschichte geht ans Herz.

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