Das Fichtensterben am Lusen

“[Es ist] die entscheidende Frage, ob wir soviel Kultur haben, dass wir die Natur auch um ihrer selbst willen zu erhalten […]”
Reinhard Wandtner ((Reinhard Wandtner, Mehr Wildnis zwischen Rachel und Lusen, in: FAZ vom 28. Dezember 1983))

Der 1. August 1983

Die Geschichte des Nationalparks Bayerischer Wald beginnt nicht mit seiner Gründung am 7. Oktober 1970. Sie beginnt am Abend des 1. August 1983. Von 19.15 Uhr bis 19.45 Uhr an diesem Montag stürmt ein Sommergewitter über die westlichen Tal- und Hanglagen des Nationalparks. ((Hartmut Strunz, Entwicklung von Totholzflächen im Nationalpark Bayerischer Wald, in: Nationalparkverwaltung Bayerischer Wald (Hg.), 25 Jahre auf dem Weg zum Naturwald, Neuschönau 1995, S. 68)) Der Orkan erreicht Geschwindigkeiten von 75 kmh. Er wirft 87 ha Wald zu Boden. ((Hans Jehl, Die Waldentwicklung auf Windwurfflächen im Nationalpark Bayerischer Wald, in: Nationalparkverwaltung Bayerischer Wald (Hg.), 25 Jahre auf dem Weg zum Naturwald, Neuschönau 1995, S. 113 ff.)) In der Nacht vom 24. auf den 25. November 1984 wütet ein zweiter Sturm – diesmal in den nordöstlichen Hochlagen. Er lässt die Windwurfflächen auf insgesamt 173 ha anwachsen. ((Stefan Nüßlein, Ursprünge und bisheriger Verlauf der Totholzausbreitung, in: Bayerische Landesanstalt für Wald- und Forstwirtschaft (Hg.), Zur Waldentwicklung im Nationalpark Bayerischer Wald 1999, Freising 2000, S. 2)) Davon liegen 85 ha mit 30.000 m³ Windwurfholz in den total geschützten Reservaten ((Jehl spricht mit Bezug auf Bibelriether von 85 ha (S. 115), Nüßlein von 82,9 ha (S. 3), eine Karte der Windwurfflächen finden Sie auf S. 66 f. bei Strunz, a. a. O.)). Diese hatte der bayerische Landtag noch im Frühjahr 1983 von anfänglich 2.500 auf 6.400 ha der insgesamt 13.300 ha großen Nationalparks ausgeweitet. ((Heinrich Rall, Die Wälder im Nationalpark Bayerischer Wald: Von forstwirtschaftlicher Prägung zu natürlicher Entwicklung, in: Nationalparkverwaltung Bayerischer Wald (Hg.), 25 Jahre auf dem Weg zum Naturwald, Neuschönau 1995, S. 29))

Nationalparkleiter Hans Bibelriether will die 85 ha nicht räumen. Ursprünglich ist er ein klassischer Förster: Er will nach Lehrbuch den Wald umbauen, damit er naturnäher wird. So pflanzt er 10 Jahre lang Tannen in Fichten-Buchen-Wälder. Doch dann macht er eine Erfahrung, die sein traditionelles Försterweltbild ins Wanken bringt: 1972 war es ihm gegen den Widerstand der Forstämter im Nationalpark gelungen, ein paar hundert Bäume nach einem kleinen Windwurf am 11./12. März in der Nähe des Rastplatzes Graupsäge liegen zu lassen. ((Strunz, S. 68)) Bibelriether stellt fest, dass die Tannen, die dort durch natürliche Verjüngung wachsen, schneller wachsen als die, die er künstlich anpflanzt. “Da haben wir kapiert, dass man nicht künstlich mehr Natur schaffen kann.” ((Hans Bibelriether, Erlebte Geschichten vom 26.5.2013))

Landwirtschaftsminister Dr. Hans Eisenmann besichtigt diesen Windwurf und ist sehr beeindruckt von der “zwischenzeitlich aufgewachsenen dichten, über mannshohen Verjüngung aus verschiedenen Baumarten”. ((Rall, S. 30)) Er stärkt den zwei “komischsten Beamten, die ihm je begegnet sind,” ((Zitat von Eisenmann, zit. n. Bibelriether, a. a. O.; mit dem zweiten komischen Beamten ist Georg Sperber gemeint, der stellvertretende Nationalparkleiter von 1970-1972)) den Rücken. Am 14. Oktober 1983 fällt der Nationalparkbeirat unter seiner Leitung eine für die Zukunft wegweisende Entscheidung: Die Windwürfe in der Naturzone werden nicht aufgearbeitet. Die umgeworfenen Bäume bleiben liegen. Es wird nicht mit Jungbäumen künstlich wieder aufgeforstet. ((Hans Bibelriether, Zum Geleit, in: Nationalparkverwaltung Bayerischer Wald (Hg.), 25 Jahre auf dem Weg zum Naturwald, Neuschönau 1995, S. 6)) Es ist das erste Mal in Deutschland, dass ein großer Windwurf liegen bleibt. “Totes Holz im Wald liegen zu lassen, das ist für einen ordentlichen Deutschen ja nicht vorstellbar.” ((Bibelriether, Erlebte Geschichten))

Im Nationalpark-Beirat stimmen nur zwei Fraktionen gegen das Liegenlassen: der Obmann des Kreisbauernverbands und die Vertreter der Sägewerke: “[…] für das Beiratsmitglied Georg Weny, Holzeinkäufer eines der größten Sägewerke im Bayerischen Wald, ist es eine Verschwendung, die mächtigen Bäume verfaulen zu lassen. Rund 80 Prozent des Windbruchs seien Stammholz mit einem Wert von etwas 160 Mark je Festmeter.” ((Reinhard Wandtner, Mehr Wildnis zwischen Rachel und Lusen, in: FAZ vom 28. Dezember 1983))

Der heftig kritisierte Eisenmann prägt damals den Satz, der berühmt wird: “Wir wollen einen Urwald für unsere Kinder und Kindeskinder.” Der Satz hängt heute als Inschrift auf einem Gedenkrelief in der Eingangshalle des Besucherzentrums in Neuschönau, das den Namen des Ministers trägt: Hans-Eisenmann-Haus. Bibelriether bringt die Bronzetafel direkt nach Eisenmanns Tod 1987 dort an, damit der Satz nicht vergessen wird. ((Martina Keller, Zu viel Wald macht zornig, Die Zeit vom 11.8.1995))

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