Winterwanderung zum Lusen

Der frühreife Bergfichtenwald

Der junge Bergfichtenwald am Lusen ist also sowohl horizontal als auch vertikal differenziert. Ökologen sprechen auch von “struktureller Komplexität” oder “dreidimensionaler Heterogenität“.

In einem Email vom 13. Oktober 2014 weist mich Jörg Müller, stellvertretender Leiter des NLPs und Leiter des Sachgebiets III “Naturschutz und Forschung”, freundlicherweise auf eine wegweisende Arbeit von Daniel Donato von der Universität Madison im US-Bundesstaat Wisconsin hin. Sie erschien 2012 im Journal of Vegetation Science und trägt den komplizierten Titel “Multiple successional pathways and precocity in forest development: can some forests be born complex?”. Das heißt übersetzt so viel wie: “Verschiedene sukzessionale ((Sukzession meint die zeitliche Abfolge verschiedener Pflanzengesellschaften von einem Initial- hin zu einem Klimaxstadium. Die berühmteste Sukzession in der Forstwirtschaft ist die auf einem Kahlschlag von einem Birken- hin zu einem Buchenwald. Siehe den Artikel Sukzession bei Wikipedia)) Entwicklungswege und Frühreife in der Waldentwicklung: Können bestimmte Wälder komplex geboren sein?” Donato stellt in dem Aufsatz eine neue Hypothese auf, wie strukturelle Komplexität bei Wäldern entstehen kann.

Die traditionelle Auffassung besagt, dass strukturelle Komplexität erst in der Spätphase der Entwicklung eines Waldes entsteht. ((Daniel Donato u. a., Multiple successional pathways and precocity in forest development: can some forests be born complex?, in: Journal Of Vegetation Science 23 (2012), S. 576 – 584, S. 579 Abb. 3)) Erst in der späten Reife-, der Alters- und der Zerfallsphase entfalten Wälder eine vertikale Struktur: Sie haben einen Unter-, Zwischen- und Oberstand. Außerdem entwickelt sich eine horizontale Struktur: durch Windwürfe, Kronenabbrüche, Lawinen, Pilz- oder Borkenkäferbefall usw. entstehen kleine Lücken im geschlossenen Kronendach des Oberstands. In diesen Lichtinseln wachsen junge lichthungrige Bäume heran. Starkes stehendes und liegendes Totholz sorgt für zusätzliche Strukturen.

Die frühe und die mittlere Phase der Waldentwicklung ist dagegen nach traditioneller Auffassung notorisch strukturarm: Es gibt nur eine lückenlose Schicht gleichaltriger und gleich hoher Bäume. Abschreckende Beispiele sind die Altersklassenwälder unserer Wirtschaftswälder; z. B. die künstlich gepflanzte Fichtenplantage oder das Buchenstangenholz, der nach Schirmschlägen heranwächst.

Donato vertritt nun die Auffassung, dass bestimmte Wälder bereits in der Frühphase eine strukturelle Komplexität zeigen. In ihnen wird es auch später nie zu einem lückenlos geschlossenen Kronendach kommen: Dafür sind die Lücken zwischen den patchworkartig verteilten Baumgruppen viel zu groß. Ihr Baumkronendach wird auch in der mittleren Entwicklungsphase immer offen bleiben (“open canopy”). Diese Wälder sind also gewissermaßen frühreif (“precocious”): Sie zeigen bereits in der Frühphase die strukturelle Komplexität der Spätphase.

Donato hat den Nationalpark im Mai 2014 für zwei Tage selbst besucht: Der junge Bergfichtenwald am Lusen ist ein schönes Beispiel für die Richtigkeit seiner Hypothese. Leider ist der Besuch des bedeutenden Wissenschaftlers dem Nationalpark keine Pressemitteilung wert. Auch Informationen zu Donatos Forschungen über frühreife Wälder sucht man auf der Homepage des Nationalparks vergebens. Damit verstößt die Nationalparkverwaltung gegen § 5 der Nationalparkverordnung über Bildung und Erholung. In Satz 2 Absatz 2 heißt es ausdrücklich:

Die Arbeiten im Nationalpark einschließlich der wissenschaftlichen Untersuchungen und Forschungsvorhaben der Nationalparkverwaltung sollen erläutert werden.

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